Zum
Erscheinen des Buches "Buddha-Natur" führte der Übersetzer Karl Antz ein
Interview mit Tulku Thondup Rinpoche im August 2010
KA: Können
Sie die Bedeutung von Kunkhyen Longchen Rabjam für die Nyingma-Tradition
und besonders für die Dzogchen-Linien erläutern?
TT: Kunkhyen
Longchen Rabjam (KLR) war einer der größten asketischen Einsiedler und
hervorragenden Gelehrten der tibetisch-buddhistischen Welt. Vor allem
machte er durch seine weithin berühmte Gelehrsamkeit und seine
umfangreichen Werke – mehr als 200 Abhandlungen – fast im Alleingang die
außergewöhnlichen Lehren der drei inneren Tantras des Dzogpa Chenpo
zukünftigen Anhängern zugänglich. Gemeinsam mit Sakya Pandita und Je
Tsongkhapa gilt er als einer der drei tibetischen Manjushris (Buddha der
Weisheit).
Vor allem sind
viele seiner Schriften zu Dzogpa Chenpo nicht nur tiefgründige gelehrte
Darlegungen – sie besitzen einzigartige Qualitäten. Weiß man, wie man
sie mit offenem Sinn liest, so hört und fühlt man ein grenzenloses Tosen
natürlicher Wogen – Wogen der angeborenen Kraft des immanenten
Gewahrseins des eigenen Bewusstseins. Könnte man diese Weisheitswogen
spontan strömen lassen, könnte sich das eigene Bewusstsein natürlich in
die grenzenlose ozeangleiche erwachte Weisheit des KLR auflösen.
KA:
Inwieweit sind heute, da viele Belehrungen zu Dzogpa Chenpo von jetzt
lebenden Meistern zugänglich sind, KLRs Schriften immer noch relevant?
TT: Das Ziel
des Buddhismus ist die Verbesserung der Lebens- und Bewusstseinsqualität
Aller; das Ziel von Dzogpa Chenpo ist das Erwachen der reinen Natur des
Geistes – der Buddhaschaft. Sicher – Gewohnheiten und Kultur der
Menschen ändern sich im Lauf der Zeit; die tatsächlichen Qualitäten und
die wahre Natur des Bewusstseins ändern sich aber niemals. Also sind
KLRs Schriften über Dzogpa Chenpo auch heute noch relevant und werden es
bleiben. Kann man auch nur wenige Zeilen aus einigen seiner Schriften
mit entspanntem und offenem Geist lesen, werden sie das Herz öffnen und
es auf einer tieferen Ebene erblühen lassen. Dann spielt es keine Rolle,
in welchem Jahrhundert man lebt.
KA: Welche
Bedeutung haben Texte wie die verschiedenen Arten von Schriften des KLR
in Bezug auf Dzogpa Chenpo? Wie sollte man sich ganz allgemein als Leser
und ernsthafter Praktizierender den verschiedenen Arten von Texten
nähern?
TT: Hier
sind zwei Punkte zu bedenken. Zunächst einmal muss man wissen, dass Dzogpa Chenpo der Gipfel aller buddhistischen Belehrungen ist; will man
es also praktizieren und sein Ziel erreichen, muss man allgemeine
Belehrungen, die zu diesem Gipfel führen, studieren und praktizieren –
so wie man Treppen benutzt, um zum Penthouse zu kommen. Die Dzogpa
Chenpo-Verwirklichung ist instantan, augenblickshaft; will man aber
diese Stufe der Verwirklichung erreichen, muss man die allgemeinen
Belehrungen allmählich üben – es sei denn man ist ein Tulku (Emanation)
eines bereits Erwachten.
Zum
andern haben verschiedene Menschen unterschiedliche Arten mentaler und
karmischer Dispositionen und Bedürfnisse. Das Ziel mag also dasselbe
sein – soll es erreicht werden, benötigen verschieden geartete Menschen
aber unterschiedliche Arten des Übens, je nach den Anforderungen ihres
geistigen Wegs. Will man den Gipfel eines Bergs erreichen, sollte man
jeweils die angemessene Art des Reisens benutzen – ob das nun Fliegen,
Fahren, Radfahren oder Gehen ist.
KA: Die
Anthologie enthält Beispiele aus den verschiedenen Arten von Schriften
des KLR – von gelehrten philosophischen Abhandlungen bis hin zu
poetischen Beschreibungen des Dzogpa Chenpo. Können Sie die Gründe für
Ihre Textauswahl und die verschiedenen von Ihnen ausgewählten Arten von
Texten beschreiben?
TT: Anfänglich
war es keineswegs meine Hauptabsicht bei dieser Auswahl aus KLRs
Schriften über verschiedene Sachbereiche, eine Anthologie oder
Beispielsammlung seiner Schriften zu erstellen.
Hier
wäre eine kleine Geschichte zu erzählen. Als ich in den Siebziger Jahren
in den Westen kam, hörte ich die Aussage einiger Menschen, dass Termas (tib.
gTer Ma oder gTer; die Belehrungen, die Guru Padmasambha durch seine
mystische Kraft entdeckte) nur Entdeckungen oder Ideen seien, die durch
einfache psychische oder geistige Kraft ins Bewusstsein kommen. Also
übersetzten wir einen originalen Text des bekannten Gelehrten, des
Dritten Dodrupchen, über Terma und veröffentlichten ihn als Hidden
Teachings of Tibet (Wisdom Publications, 1996)
[deutsch:
Die verborgenen Schätze Tibets, Zürich-München: Theseus 1994].
Viele westliche Studierende sagten mir, dass dieses Buch ihnen half, den
Weg in die ganze Weite der Terma-Tradition des Nyingma zu finden.
Entsprechend
sah ich einige Kommentare zu Dzogpa Chenpo, die etwa besagten: „Dzogpa
Chenpo ist keine buddhistische Lehre.“ „Will man es praktizieren,
benötigt man keine allgemeine buddhistische Übungsweisen.“ „In Dzogpa
Chenpo sind keine Pfade und Stufen zu erlangen, wie das in dem
Mahayana-Lehren der Fall ist.“ Also traf ich mit Harold Talbotts
editorischer Hilfe eine Auswahl aus Schriften des KLR über Dzogpa Chenpo,
um ernsthaften Studierenden die Gelegenheit zu bieten, die tatsächlichen
Worte des größten Meisters auf diesem Gebiet zu lesen.
Des weiteren
sind beispielsweise KLRs mit erstaunlicher poetischer Anmut verfassten
Schriften über die bezaubernde Schönheit der Natur nicht nur Dichtkunst;
sie sind vielmehr Wege, die uns erlauben, die Natur der Natur – den
ultimativen Frieden und die letztendliche Offenheit – direkt oder
indirekt zu erfahren.
KA: Können
Sie etwas zu Ihrer eigenen Beziehung zu KLR und seinen Schriften sagen?
TT: Ich wurde
in einer Gemeinschaft geboren, die KLR und Rigdzin Jigme Lingpa sowie
ihren Schriften hingegeben war. Schon früh in meinem Leben hatte ich das
große Glück, in KLRs Schriften eingeführt zu werden. Später hatte ich
als Student an der berühmten Unterrichtsinstitution des Klosters
Dodrupchen in Ost-Tibet Gelegenheit, gelehrte Texte aus verschiedenen
buddhistischen Traditionen Tibets zu studieren; doch meine Hingabe an
die Schriften des KLR zu Dzogpa Chenpo wuchs stärker und war wichtiger
als diese. Zwar fühle ich, dass ich nur ein Anfänger in der Linie der
Belehrungen des KLR bin; doch meine Hingabe – die Energie von Freude und
Vertrauen – in diese Belehrungen wuchs ohne Ende.
KA: Seit
dem ersten Erscheinen dieser Anthologie in englischer Sprache sind
mehrere Jahrzehnte vergangen. Wie betrachten Sie die Entwicklung des Dzogpa Chenpo im Westen seit damals? Was ist Ihrer Meinung nach
notwendig, soll Dzogpa Chenpo tiefere Wurzeln im Westen schlagen?
TT:
Wunderbarerweise sind die Dzogpa Chenpo-Lehren heute für viele westliche
tibetische Buddhisten eine gut bekannte Meditationstradition. Es gibt
hervorragende Lehrer und Studierende wie auch kostbare Bücher. Doch hat
die Popularität dieser Belehrungen, wie das auch in allen anderen
Bereichen der Fall ist, ihren Preis. Manche überkluge Personen lehren
oder schreiben über Erfindungen ihrer eigenen intellektuellen Ideen, als
seien diese wahres Dzogpa Chenpo. Andere sind übereifrig, die
tiefgründigen Belehrungen auf Herz und Nieren zu untersuchen, obwohl sie
die Essenz nie schmeckten. Dennoch hoffe ich, dass sich die meisten
Studenten mehr auf einsiedlerische Meditatoren und traditionelle
Belehrungen verlassen, die aus der erwachten Natur des Geistes
entstanden sind – der erleuchteten Weisheit.
KA: Es
heißt manchmal, die Dzogpa Chenpo-Belehrungen seien für die heutige Zeit
besonders relevant. Warum könnte das so sein?
TT: Heute
haben Menschen wenig Zeit; viele sind aber freigeistiger, aktiver und
gebildeter. Mögen sie also, wenn sie denn ihr freies Denken, ihre aktive
Energie und ihr gut informiertes Bewusstsein dem Ersteigen des
notwendigen Pfades widmen, rasch und binnen kurzem in die große Weite
der ursprünglichen Natur durchbrechen – dank des kurzen Pfades, den Dzogpa Chenpo bietet.
KA: Ich danke Ihren für
dieses Interview
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