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Unterwegs im Bewusstsein

Jes Bertelsens Bücher über das Bewusstsein

von Karl Antz

Der dänische Autor Jes Bertelsen schrieb in den Jahren 1982 bis 2008 sechs Bücher über das Bewusstsein. Im Nachhinein erweisen sich diese sechs Bücher als ein in sich abgeschlossenes Werk in sechs Teilen. Diese Teile befassen sich im Grunde alle mit ein- und demselben Thema: dem erleuchteten Bewusstsein – der letztendlichen Grundlage jeder Bewusstseinsform. In ihrer Gesamtheit beleuchten sie das Phänomen Bewusstsein aus immer wieder neuen Einfallswinkeln; und gleichzeitig bieten sie eine Beschreibung des Weges, den der Autor unter seiner Erforschung des Bewusstseinsphänomens nahm. Man kann diese Bücher – und damit den Weg ihres Autors – auf zweierlei Weise betrachten.

Durch die eine Betrachtungsweise sieht man eine sozusagen spiralförmige Bewegung um dieses Phänomen. Man bewegt sich vom Ausgangspunkt in Höheres Bewusstsein um den Kern herum; gleichzeitig vollzieht man eine Bewegung aufwärts in seine höheren Schichten – oder auch abwärts in seine verborgenen Tiefen. So wird man feststellen, dass das Phänomen, obwohl man ihm eigentlich nicht näher kommt, dennoch stetig transparenter wird.

Die andere Betrachtungsweise lässt sich mit der Folge von „Grund – Pfad – Frucht“ im Dzogchen (und allgemein im Buddhismus) darstellen. Der „Grund“ ist in dieser Perspektive die keimhafte Darstellung des Themas im ersten Buch „Höheres Bewusstsein“. Im Verlauf der vier Bücher Befreiung des Bewusstseins, Der Himmel des Jetzt, Das Innerste des Bewusstseins und Dzogchenpraxis als Bewusstseinsweite wird nachfolgend in einer Darstellung teils westlich-christlicher, teils östlich-buddhistischer Traditionen der „Pfad“ geschildert. Und in Das fließende Licht des Bewusstseins wird die reife „Frucht“ in einer originalen, weniger traditionsgebundenen und eher persönlichen Form dargestellt, so wie es in der Grundlage des Buches Höheres Bewusstsein angedeutet wurde.

Diese beiden Perspektiven werden nun in einer kurzen Darstellung der sechs Bücher beleuchtet.

Höheres Bewusstsein

Dieses Buch erschien 1983, also mehrere Jahre vor Jes Bertelsens Begegnung mit dem tibetischen Dzogchen-Lehrer Tulku Urgyen (1920-1996). Es enthält einen Text und den dazugehörigen Kommentar. Der Text ist kurz und knapp – mit den Worten des Autors handelt es sich um einen Inbegriff von zehn Jahren regelmäßiger meditativer Praxis. Der Kommentar erläutert und vertieft diesen Text; er zeigt den Weg zum rudimentären Verständnis eines Bewusstseinszustandes, der jenseits der allgemein bekannten Bewusst­seinsbereiche liegt. Dieses Verständnis findet seinen Ausgangspunkt in einer Konzentration der Bewusstseinsenergie, die sich anfänglich nach außen auf einen Gegenstand richtet; später richtet sich diese Aufmerksamkeit der Konzentration dann nicht nur nach außen auf den Gegenstand, sondern zugleich nach innen auf das Bewusstsein, welches diesen Gegenstand betrachtet. Es entwickelt sich sozusagen ein bipolares Bewusstsein, das Objekt und Subjekt gleichzeitig betrachtet – und damit die Möglichkeit eines Transzendierens der Dualität in der Erlangung eines höheren Bewusstseinszustands andeutet.

Dieser Bewusstseinszustand wird in diesem Buch überwiegend als eine einzige Bewusstseinsebene dargestellt; er wird nicht in die verschiedenen höheren Bewusstseinsebenen aufgeteilt, die die seriösen mystischen Schriften des Ostens wie des Westens andeuten. Doch sind diese Unterteilungen gegenwärtig – zumindest als theoretischer Hintergrund, soweit es die höchste, die einheitliche Bewusstseinsebene betrifft, und mit Andeutungen der darunter liegenden Bewusstseinsebene, der des kollektiven Feldes. Die Thematik der Gesamtheit der sechs Bücher findet sich in diesem Buch also gewissermaßen in Keimform; und im Verlauf der folgenden Bücher entfaltet sie sich.

Befreiung des Bewusstseins

1991 erschien das zweite Buch. 1989 begegnete Bertelsen auf einer Urlaubsreise dem tibetischen Dzogchen-Lehrer Tulku Urgyen. Diese Begegnung war von entscheidender Bedeutung für seinen weiteren Weg; ihm ist daher auch dieses Buch gewidmet. Wie Höheres Bewusstsein enthält auch dieses Buch einen Text und den dazugehörigen Kommentar; außerdem finden sich hier eine Dokumentation und ein Kolophon – ein Nachwort, das genauere Angaben zum Ursprung des Textes macht.

Der Text dieses Buchs ist wesentlich detaillierter als der des vorangehenden; er beschreibt den Prozess in einen höheren Bewusstseinszustand hinein, und er macht darauf aufmerksam, dass es sich hier um einen Durchbruch in Form einer Bewusstseinsüberführung handelt – entweder in der Begegnung mit einem externen Lehrer oder in einem visionären Erlebnis. Dieser Durchbruch ist nun nicht etwa ein in seinem Entstehen vollendetes einmaliges Ereignis; er muss nachfolgend wieder und wieder aktualisiert werden, so dass er allmählich mehr und mehr verwirklicht wird. Dadurch können alle Erscheinungen, alle Gedanken, Gefühle, Bilder und dergleichen mehr auf ihre Quelle zurückgeführt werden. Allmählich lässt man also alle Inhalte los; man lässt sie in die Quelle zurückfallen, und im Wiedererkennen der Quelle löst sich alle Dualität auf.

Der Kommentar legt diesen langsam voranschreitenden Weg dar; nicht nur mit Beschreibungen meditativer Techniken, sondern auch mit erläuternden Beispielen aus der westlichen Philosophie, wobei Kierkegaard und Kant (Kritik der reinen Vernunft) zitiert werden.

Die Dokumentation spiegelt diese Begriffswelt in ihren vielfältigen Facetten wider – mit Beispielen östlicher wie westlicher Mystik; unter anderem werden Ramana Maharshi, Seuse, Eckhart, Joshu, Teresa af Avila und Chuang Tsu angeführt. Außerdem wird ein Streiflicht auf moderne Techniken wie etwa die Tiefenpsychologie geworfen – Techniken, die in einem Bewusstseinsprojekt des hier geschilderten Charakters ebenfalls Anwendung finden können.

Schließlich beschreibt der Kolophon, das Nachwort, die Quellen dieses Buchs; teils die eigenen jahrelangen meditativen Erfahrungen des Autors, teils das Material, das in der Begegnung mit andern Menschen in Unterrichtssituationen entstand, teils die Inspiration durch die mystische Literatur des Ostens wie des Westens. Außerdem erscheinen hier zum ersten Mal die Begriffe Linie und Übertragung oder Transmission, die besonders in den nachfolgenden Dzogchen-Hauptabschnitten eine sehr große Rolle spielen.

Hier wird das Bewusstseinsphänomen also aus vielen Blickrichtungen beleuchtet; was im ersten Buch als Zustand jenseits des gewöhnlichen dualen Bewusstseins angedeutet wurde, wird nun wie in einem Kaleidoskop betrachtet, im Besitz einer Unzahl an Facetten, die alle ein- und derselben Quelle entstammen.

Der Himmel des Jetzt

Die beiden vorangehenden Bücher beschäftigten sich auf quasi-wissenschaftliche Weise mit dem Begriff des höheren Bewusstseins; sie versuchten diesen Begriff einzukreisen und anzudeuten, worum es hier geht. Dann erschien 1994 Der Himmel des Jetzt.

Dieses Buch ist im Gegensatz zu den beiden vorherigen eher eine tiefgehende Meditation über das höhere Bewusstsein. Es macht keinen Versuch, sich diesem Begriff analytisch zu nähern; es betrachtet das Bewusstseinsphänomen, ohne es genauer aufzuschlüsseln.

In einigen Kapiteln wird hier eine Annäherung an das Thema versucht, indem duale Sinneszustände geschildert, ja nahezu wieder-erlebt werden, die eine gewisse formale Ähnlichkeit mit höheren Bewusstseinsformen haben; etwa eine friedliche Ferienstimmung, in der das Ich fast nicht mehr merkbar ist, oder die Hochspannung großer Gefahr, in der sich alle Sinne in erhöhter Aufmerksamkeit befinden. Doch werden alle derartigen Situationen als Ansatz zu einer Vertiefung in wortloser Offenheit benutzt. Und es wird gezeigt, wie sich diese Offenheit in der Stille des Gebets und in der, wie es scheint, Endgültigkeit des Todesprozesses anwenden lässt.

Nach der intensiven Erforschung des Hauptthemas in den beiden ersten Büchern bietet dieses Buch also eher eine ruhige, offene, ebenso intensive aber mehr in sich selbst ruhende Betrachtung dieses Themas.

Das Innerste des Bewusstseins

1999 erschien das nächste Buch. Hier wird das Thema im Verlauf von zwei Teilen besprochen. Der erste Teil beschreibt Stufen und Funktionen des Bewusstseins. Verschiedene Bewusstseinszustände werden an Beispielen erläutert, und es wird gezeigt, wie man mit diesen Zuständen arbeiten kann, um die Bewusstseinsklarheit zu vertiefen. Hier spielt die im ersten Buch angedeutete und später mehrfach beschriebene bipolare Bewusstseinspraxis eine große Rolle: ständig und in jeder Situation die Aufmerksamkeit in gleichem Maße auf den Gegenstand – das Objekt, das was gerade jetzt geschieht – wie auch auf das Subjekt – auf den, der erlebt, sieht, handelt oder nicht handelt – zu richten. Und diese Technik wird als eine Art Vorstadium des Dzogchen beschrieben.

Dzogchen steht im Zentrum des zweiten Teils. Hier wird eine loyale Beschreibung der Dzogchen-Pädagogik geboten, so wie sie in ihrem tibetischen Zusammenhang praktiziert wird. Er werden andeutende Beschreibungen von Trekchö und Thögal gegeben, den beiden Grundtechniken des Dzogchen. Die drei
Dzogchenformeln Garab Dorjes, des halb-legendären Begründers des Dzogchen, werden zitiert. Und es wird die Wichtigkeit der Transmission wie auch der ungebrochenen Linie von Lehrern und Schülern über viele Generationen betont.

In diesem Buch wird also ein Zugang zum Hauptthema dargestellt, der sich einerseits an einem westlichen Blickwinkel, i.e. der Bipolarität, andererseits an Dzogchens östlicher, äußerst fortgeschrittener, doch klar durchschaubarer Pädagogik orientiert; einer Pädagogik, die in ihrer Methodik in hohem Maße einer west­lichen wissenschaftlichen Zugangsform vergleichbar ist.

Dzogchenpraxis als Bewusstseinsweite

Dieses 2003 erschienene Buch besteht ebenfalls aus zwei Teilen. Im ersten Teil steht der allmählich voranschreitende Weg im Vordergrund. Es wird gezeigt, wie man sich vor dem Hintergrund einfacher Voraussetzungen höheren Bewusstseinszuständen annähert und wie dieser Prozess allmählich das gewöhnliche duale Leben durchdringt und es mehr und mehr transparent macht. Es wird auf die notwendige Verbindung zwischen der „isolierten“ Praxis der Meditation und der Einbeziehung einer derartigen meditativen Haltung in die Alltagstätigkeiten hingewiesen, sodass der Alltag selbst langsam zu andauernder Meditation wird.

Im zweiten Teil dieses Buchs steht der augenblickshafte Aspekt des Wegs zum höheren Bewusstsein im Vordergrund. Der zentrale Begriff ist hier die unendliche Weite und Raumhaftigkeit des höheren Bewusstseins, worin der unvermittelte Durchbruch erfolgen kann – ein Durchbruch, der mit einem Schlag die gesamte Wirklichkeit durchleuchtet und die Daseinsperspektive völlig verändert.

Das Hauptthema wird in diesem Buch also in einem Gleichgewicht zwischen dem Allmählichen und dem Unmittelbaren abgehandelt. Damit hält dieses Buch auch ein Gleichgewicht zwischen dem analytischen Zugang in den beiden ersten Büchern und dem unmittelbar vorangehenden vierten Buch einerseits und andererseits dem eher meditativen, betrachtenden Zugang in Der Himmel des Jetzt.

Das fließende Licht des Bewusstseins

Dieses 2008 erschienene Buch ist eine äußerst konzentrierte Zusammenfassung der Hauptpunkte in den vorangegangenen Büchern; nicht aber in der Form eines Resumés – eher in der Form dargestellt, dass der Autor hier seinen eigenen, persönlichen Weg beschreibt, u.a. mit einer intensiven Schilderung der entscheidenden ersten Begegnung mit Tulku Urgyen; dass er auf Kant zurückgreift und nachweist, wie dieser in seiner Kritik der reinen Vernunft auf westlicher Grundlage den Begriff beschreibt, der das Zentrale für einen der wichtigsten Autoren des Dzogchen, den tibetischen Lehrer Longchenpa (1308-1364), ist; dass er die Schriften des Letzteren ausführlich mit Zitaten aus einigen seiner wichtigsten Schriften, hierunter Chöying Dzö, Nelug Dzö, Semnyi Rangdröl u.a., wiedergibt; und dass er in all diesem – teils durch Longchenpa-Zitate, teils durch eigene Betrachtungen – einen Zugang zu einer meditativen Offenheit weist, an der der Leser oder die Leserin selber teilhaben kann, wenn sie denn so will.

Höheres Bewusstsein deutet das Thema an; Befreiung des Bewusstseins, Der Himmel des Jetzt, Das Innerste des Bewusstseins und Dzogchenpraxis als Bewusstseinsweite durchspielen dieses Thema in Spiegelungen, loyalen Wiedergaben aus Ost und West und meditativen Betrachtungen; und Das fließende Licht des Bewusstseins sammelt dies alles sozusagen in einer symphonischen Zusammenfassung, in der sich alle Elemente widerspiegeln und scharfe Streiflichter aufeinander werfen; einer Zusammenfassung, worin sie alle Facettierungen dessen sind, was den Kern des Gesamten ausmacht – des erleuchteten, nondualen Bewusstseins.



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