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Die Vækstcenter-Pädagogik


1983, im ersten Jahr des Vækstcenter, beschrieb Jes Bertelsen den menschlichen Erkenntnisprozess als in zwei Phasen verlaufend: Selbstentwicklung und Meditation. Zunächst einmal geht es darum, wie er in einem frühen Interview sagte (1), mit all den blockierten Energien, den Erinnerungen und Frustrationen in Berührung zu kommen, die nicht in die Gesamtheit der Person integriert wurden. Parallel damit kann man allmählich den Kontakt mit tieferen Ressourcen in der Persönlichkeit und im Energiesystem suchen: „Wie viele andere, die auf diese Weise arbeiten, habe auch ich bemerkt, dass die Menschen nur einen geringen Teil all der Möglichkeiten, Talente und Ressourcen benutzen, die sie eigentlich besitzen“, sagte er.

Es ist das Zusammenspiel dieser beiden Stufen – der Schwierigkeiten und der Ressourcen –, das die Erfahrung von Ganzheit, Integrität oder Totalität ermöglicht. Hier ist aber anzumerken, dass im Brennpunkt dieser beiden Arten von Arbeit an der Persönlichkeit immer noch das gewöhnliche Bewusstsein steht. „Man muss das gewöhnliche Bewusstsein nicht erweitern. Man ist in seinem Ich zentriert und kommt hier in Berührung mit den Kehrseiten, den eigenen Schattenseiten, den eigenen Blockierungen. Und dann erhält man neue Möglichkeiten, die man auch benutzen und in das Ich hinein kanalisieren kann.“

Der entwicklungsmäßige Teil eines inneren Prozesses der Reifung und der Erkenntnis enthält beide Seiten. Und an diesem Punkt kann ein Quantensprung erfolgen, wenn man allmählich die Meditation in den Prozess einbezieht. In dieser Arbeit geht es um eine Öffnung der Ich-Struktur; darum, „dass man nicht im Ich verfangen oder eingeschlossen ist, sondern dass sich dieses Ich allmählich lockert, so dass man zumindest partiell außerhalb des Ichs funktionieren kann“. Eine so geartete Übung, also die spezifische meditative Übung, bemüht sich um den Kontakt mit einem höheren Bewusstsein.

Diese Beschreibung entspricht beinahe einer Programmerklärung für das, was später als die Pädagogik des Vækstcenter bekannt wurde. Im Lauf der letzten 20 Jahre wurde diese Art „Selbstentwicklung mit einem spirituellen Horizont“ gewissermaßen ein Warenzeichen für das Vækstcenter. In dieser Arbeit geht es darum, Selbsteinsicht und persönliche Klärung zu gewinnen, die das Alltags- und Berufsleben befruchten kann. In diesem Prozess wird ein breites Spektrum an Werkzeugen benutzt: unter anderem Traumdeutung, körperliche Behandlung, psychologische Klärungsarbeit, Chakra-Übungen, Atemübungen, tantrische Vertiefung, meditative Praxisformen und soziales Engagement. In ihrer Gesamtheit bilden diese Arbeitsfelder eine relativ gut erprobte Reiseroute, in körperlichem und seelischen Sinn, in Richtung auf eine mehr auf sich selbst beruhende und Ressourcen-getragene Persönlichkeit.

All dies lässt sich im Licht einer größeren Perspektive betrachten: einer eigentlichen meditativen und spirituellen Praxis, die ihren Ursprung im Dzogchen findet, einem der höchsten Meditationswege im tibetischen Buddhismus. 1989 ermöglichte eine Begegnung von Jes Bertelsen und Tulku Urgyen Rinpoche die Verwurzelung dieser spirituellen Tradition in unserer Region. Diese Begegnung wurde eine Wegscheide – für das Vækstcenter wie auch für den Ideengeschichtler.

Auf der Basis des stufenhaften Übungswegs des Vækstcenters (unter anderem in den Kursen „Wege zum Selbst“), der sich in den Achtziger Jahren formte, erwuchsen nun ab 1990 die Konturen einer eigentlichen spirituellen Praxis, die vielfach in Retreat-Internatkursen von kürzerer oder längerer Dauer vermittelt wurde; einer Praxis, deren Grundschule nicht die klassische buddhistische Tradition ist, sondern eine moderne „Selbstentwicklung mit einem spirituellen Horizont“, unterstützt von Therapie und Lebensentfaltung.

Eine Hauptthese des allgemeinen Unterrichts war die Wahrung einer nicht sektiererischen Perspektive. Jedermann sollte willkommen sein, niemand sollte sich auf ein bestimmtes psychologisches oder religiöses Lineal hin einrichten. Alle sollten frei kommen und gehen. Eine weitere Hauptthese war, dass Entwicklung für einen modernen Menschen auf dem Respekt für demokratische Richtlinien, Anerkennung der Gleichberechtigung der Geschlechter und Offenheit für einen wissenschaftlichen Zugang zu psychologischer und spiritueller Arbeit beruhen muss. Und dass die christliche Kulturgrundlage, die den westlichen Sinn zutiefst geprägt hat, respektiert und als Bestandteil in die Arbeit integriert werden muss. (2)

Ein Spektrum von Disziplinen

Als integrierte Praxis umfasst die Pädagogik des Vækstcenters verschiedene innere und äußere Disziplinen, die sich unterschiedlich kombinieren lassen, deren Hauptbereiche aber alle wichtig sind. So ist es zum Beispiel nicht optimal, mit Meditation zu arbeiten, wenn nicht auch der körperliche oder gefühlsmäßige Aspekt berücksichtigt wird. Ebensowenig ist es klug, Träume oder andere Kanäle für Feedback seitens des Unbewussten zu vernachlässigen. Wie nun aber die körperliche Übung, die soziale Lebensführung oder die Traumarbeit um einzelnen aussieht, das ist eine andere, eher individuell betonte Sache.

Es handelt sich hier um ein Spektrum an Disziplinen vom Physischen über energetische und gefühlsmäßige Dimensionen bis hin zur eigentlichen Bewusstseinsarbeit. Die grundlegende Selbstentwicklung – die Reifung der Persönlichkeit – lässt sich aus vier verschiedenen Blickwinkeln beschreiben, die miteinander verbunden sind und sich teilweise überdecken.

Zunächst einmal geht es um die Arbeit mit den Träumen, um therapeutische Klärung und um andere Quellen der Selbsterkenntnis, hierunter das Chakra-Modell, um Einblick in die eigenen starken und schwachen Seiten und den Grad an Ausgeglichenheit in der Persönlichkeit und im energetischem System zu gewinnen.

Dann geht es um die Arbeit am Körper, mit Intensität und Vibration, Entspannung und Körperbewusstsein. Ausdrucksmäßige Übung und Bewusstmachung von Lust und Sexualität gehören ebenfalls zu diesem Blickwinkel.

Des weiteren wäre da die Arbeit mit den verfeinerten Gefühlen des Herzens, hierunter die Erkennung seiner tieferen Bedürfnisse, Sehnsüchte und Verletzlichkeiten. Heilung, offenes Gebet und Meditation können an der Erforschung der Möglichkeiten des Herzens beteiligt sein.

Schließlich gibt es die meditative Vertiefung, durch innere Übungen, Stille, Übung wacher Aufmerksamkeit und die Praxis des Zeugen; für manche mit dem Fokus einer regelmäßigen inneren Disziplin.

Diese vier Zugangsweisen sind nun nicht etwas für die Pädagogik des Vækstcenters spezifisches; sie finden sich vielmehr in ihrer Gänze oder teilweise an vielen anderen Orten, wo psychologisches und entwicklungsmäßiges neues Denken im Blickpunkt steht.  Das spezielle ist, dass sie Bestandteil des spezifischen Entwicklungsweges sind, der sich in den ersten 20 Jahren des Vækstcenters abzeichnete. Als Jes Bertelsen Tulku Urgyen Rinpoche begegnete, zeigte sich, dass eben diese Form der grundlegenden Übung ein angemessener Ansatzpunkt in der Richtung höherer Meditation sein kann. Es handelte sich hier nicht nur um Selbstentwicklung, sondern um Selbstentwicklung als spirituelle Grundschulung. Ein integriertes Element dieser grundlegenden Arbeit war die Offenheit gegenüber der christlichen Mystik, die sich in einer Reihe von Büchern und Kursen und später in der Pilgerreise einer Gruppe von Männern zur Athos-Halbinsel manifestierte – einem Sitz des lebendigen esoterischen Christentums. (3)

Es gibt also zwei Stufen in der Pädagogik des Vækstcenters. In der ersten Stufe – der Selbstentwicklung mit einem spirituellen Horizont – geht es darum, die Entwicklung einer ausgeglicheneren und mehr auf sich selbst beruhenden Persönlichkeit zu stimulieren; einer Persönlichkeit, die Kontakt mit ihren eigenen Ressourcen sowie ein Engagement in dem größeren Ganzen hat, von dem sie ein Teil ist. In der zweiten Sufe – der eigentlichen spirituellen Praxis – geht es darum, im Herzen zu Mitgefühl und im Bewusstsein zu höherer Erkenntnis zu erwachen. Die erste Stufe ist ein offener Weg, der zugleich als Grundlage und Ansatzpunkt für die zweite Stufe dienen kann.

Jes Bertelsens Werk ist ein ausführliches Manual für die Gesamtheit dieser Pädagogik des Vækstcenters. Bücher wie Tiefenpsychologie 1-4, Traumarbeit und Meditation und Die Wirklichkeit des Selbst beziehen sich eher unmittelbar auf einen Prozess der Selbstentwicklung mit einem spirituellen Horizont. Höheres Bewusstsein, Der Himmel des Jetzt, Das Innerste des Bewusstseins und Dzogchenpraxis befassen sich mit dem Weg durch die inneren Ebenen des Bewusstseins und mit einer Praxis jenseits der Wirklichkeit des Ichs. Zwei Bücher über den christlichen Impuls, Der Christusprozess und Herzgebet und Ikonenmystik, setzen die Pädagogik in eine Beziehung zum inneren, praxisbetonten Teil der christlichen Tradition. Zwei weitere, Quantensprünge und Inneres Tantra, handeln von den Verwandlungsmöglichkeiten und der esoterischen Bedeutung des Liebeslebens.

In ihrer Gesamtheit bieten diese Bücher gemeinsam mit einigen anderen einen umfassenden Vorschlag für einen modernen Entwicklungsweg, verankert in einer höheren Perspektive.

Voraussetzungen für intensive Meditation

Soll die Arbeit an der Selbstentwicklung als Grundlage für diesen intensiven Unterricht der zweiten Stufe dienen, erfordert das gewisse Voraussetzungen. So ist eine gute Ich-Entfaltung notwendig; was auch beinhaltet, dass man ein intensives und befriedigendes Arbeits- und Liebesleben zu führen vermag. Im allgemeinen sollte man auch einen tiefgehenden therapeutischen Prozess durchlebt und grundlegende therapeutische Werkzeuge eingeübt haben – etwa Erdverbundenheit, Zentrierung und Kontakt. Schließlich ist eine disziplinierte Übungspraxis erforderlich sowie eine extensive Kenntnis der Dimension der Selbstentwicklung, zum Beispiel mit Hilfe der oben genannten vier Blickwinkel.

Ein Eckstein der Vækstcenter-Pädagogik ist die innere Praxis; dass man also konkret und regelmäßig mit verschiedenen inneren Übungen, Stille, Gebet und Meditation arbeitet. Eine tägliche Praxis von einer Stunde oder mehr scheint in Verbindung mit einer Vertiefung auf Retreats eine Voraussetzung für eine eigentliche spirituelle Praxis zu sein.

Das sind große Anforderungen. Und Erfahrung zeigt, dass es normalerweise viele Jahre sorgfältigen und engagierten Übens und der Konfrontation ihrer selbst erfordert, bis die Persönlichkeit so weit gereift ist, dass die tieferen Bewusstseinsinstruktionen wirklich sinnvoll werden. Man erlernt Dzogchen also nicht auf einem Wochenend-Kursus, obwohl grundsätzlich jedermann die Natur des Sinns durch eine einfache Instruktion wieder erkennen sollte. Es handelt sich hier um ein Paradox: Soll jemand, der praktiziert, die in ihm innewohnende spirituelle Intelligenz, die allen Menschen gemein ist, entdecken können, erfordert das sorgfältige Übung und Vorbereitung.

In einem Kursusprogramm des Vækstcenters deutet Jes Bertelsen den Ausgangspunkt wie folgt an: „Spüren Sie versuchsweise die Erleichterung in dieser Vorstellung: Man muss sich nicht ändern, sich verbessern, sich anstrengen und lernen. Man kann es schon. Man ist nicht verkehrt. Man soll nirgendwo anders hin. Man ist schon da. Dieses Gefühl der Erleichterung, dass die meisten erleben können, wenn sie es sich denn erlauben, ist selbstverständlich nicht die voll erwachte, innerste nonduale Bewusstseinsdimension. Wohl aber ist es ein Wegweiser.“(4)

Verwurzelung von Sichtweise, Praxis und Ethik

Nun schweben diese Ideen und ihre Vermittlung aber nicht irgendwie frei in der Luft. Seit der Gründung des Vækstcenters ging das Bestreben darauf, sie in einer konkreten Wirklichkeit zu verwurzeln: teils durch umfassende Kursusarrangements, worunter im Lauf der Jahre etwa tausend Menschen in Kursusverläufen und länger dauernden Retreats unter dem Blickwinkel der Selbsterforschung und einer intensiveren Praxis und regelmäßig Inspiration gesucht haben; teils im Beispiel des Vækstcenters selbst, wo eine Gruppe von Bewohnern über mehr als 20 Jahre täglich selbst an der Verwirklichung einiger dieser Ideen gearbeitet hat.

Dies geschah durch die Instandhaltung des Centers auf idealistische, nicht entlohnte Weise, durch gemeinsame Formen der Praxis und durch das Interesse an Wachstumsmöglichkeiten im sozialen Zusammenspiel, das nicht immer unkompliziert verläuft. Für die meisten diente eine Zeit lang Therapie dazu, Licht auf alt eingefahrene Muster und eher kindhafte Seiten der Persönlichkeit und des Verhaltens zu werfen. Als Tara Bennet Goleman, Autor von Emotionale Alchemie und selber Schülerin von Tulku Urgyen Rinpoche, das Vækstcenter besuchte, stellte sie fest, dass ihres Wissens nirgendwo sonst eine derart große Gruppe von Praktizierenden in tieferem Sinn die spirituelle Dimension mit einer therapeutischen Bearbeitung integriert habe. Was nicht besagen will, dass Therapie die Antwort auf alle Fragen wäre. Wohl aber bietet sie Werkzeuge, die auch für moderne, nicht besonders neurotische Menschen auf kurze wie auch auf lange Weile hilfreich sein können.

In den alten Schulen sprach man von Sichtweise, Praxis und Ethik. Die Sichweise ist die Perspektive, die Vision. Etwa das Erwachen. Das Durchschauen des Knotens, den Leben und Tod im Menschenleben gebunden haben. Praxis ist der konkrete Weg, den man geht, die Methoden zum inneren Ausgleich und zum Erwachen. Ethik ist das eigentliche Grundmotiv und das Verhalten, in dem sich Sichtweise und Praxis erweisen sollen. Dies ist nicht etwa der einfachste Teil der Sache. Wie Jes Bertelsen schon 1988 in Die Wirklichkeit des Selbst schrieb: „Das schwierigste Hindernis scheint das ethische Niveau zu sein. Das Leben in Ich und Welt erfordert nicht gerade viel, soweit es die Ethik betrifft. Die Entfaltung des Selbst dagegen erfordert ein überaus hohes Maß an ethischer Transparenz in der Persönlichkeit.“ (5) Mitgefühl ist ein großes Wort. Mit Freundlichkeit und wacher Gegenwärtigkeit kann man sich vielleicht bisweilen leichter in Berührung finden. Doch „wenn die Meditation nicht von Mitgefühl motiviert ist, kann sie niemals spirituell werden“, heißt es in einer Anweisung. (6)

Gediegene Freundlichkeit und echtes Mitgefühl im Umgang mit anderen ist ein unmittelbares Kriterium dafür, ob die Praxis eine gewisse Tiefe erreicht hat. Hier wird spirituelle Vertiefung zu einer Kunst im Leben: „Lebenskunst entsteht, wenn sich die höchste – göttliche – Perspektive ausdrückt, wenn sie sich mit den konkreten existenziellen und alltäglichen Einzelheiten und Lebensumständen verbindet. In der Behutsamkeit und im ‚Da-Sein’ im Umgang und in der Begegnung mit Menschen muss die Dzogchenperspektive ihre Gediegenheit beweisen.“ (7)

20 Jahre der Erfahrung

Im Laufe von 20 Jahren wurden viele Erfahrungen gemacht – individuelle wie auch kollektive. Einige davon wirklich gut, andere schmerzhaft und wieder andere „blessings in disguise“. Es fehlen bisher eher wissenschaftlich orientierte Untersuchungen der Bedeutung der Vækstcenter-Pädagogik für Änderungen im Erleben von Lebensqualität,  Entwicklung neuer Wertungen und physisch-körperliche Änderungen. Es wäre vielleicht interessant, wenn wissenschaftlich orientierte Menschen Untersuchungen vornähmen, wie man sie vielerorts an ähnlichen Übungssystemen vorgenommen hat. (8) Ein vorläufiger Ansatz ist das Interesse seitens einiger Bewusstseinsforscher der Universitätsklinik in Århus, die untersuchen wollen, ob sich die meditativen Prozesse durch Gehirnscanning registrieren lassen. Ein anderer Ansatz ist die Arbeit mit dem Phänomen der Herzkohärenz, inspiriert durch das Heart-Math Institute; hier reflektieren simple Biofeedbackprogramme den Grad an harmonischer Vertiefung.

Eine Herausforderung für die Vækstcenter-Pädagogik ist die Vermittlung in die sie umgebende breitere Kultur – nicht die nähere Umwelt,, die im allgemeinen eine freundliche Einstellung hat, sondern tonangebende Kräfte in Dänemark und im Nordenim Rahmen von Wissenschaft, Psychologie, Theologie, Kulturleben und allgemeiner Öffentlichkeit. Ein Projekt wie das Vækstcenter erhält leicht einen Anflug von Sektiererei, New Age und Verwirrung. Und was ist eigentlich Mystik, abgesehen davon, dass sie etwas mystisches ist, das nichts mit unserem rationalen, wissenschaftlich eingestellten Zeitlalter zu tun hat? Solche Einwände sind relevant und wollen ernst genommen werden.

Zugleich beruht die Unwissenheit vielleicht auch auf etwas ganz anderem – nämlich der Tatsache, das die protestantische Kultur sich sehr weit von ihren ursprünglichen christlichen Wurzeln entfernt hat; Wurzeln, in denen eine lebendige Praxis ein integrierter Teil des religiösen Lebens war. „Besonders im Norden und damit in Dänemark war eine spirituelle Übungspraxis durch die Abweisung der christlichen Mystik seitens der Reformation über die letzten 5 bis 6 Jahrhunderte völlig aus den kulturellen Hauptströmungen verbannt“, konstatiert Jes Bertelsen und sagt weiter: „ So kann es denn auch kaum überraschen, dass die Bedingungen für eine spirituelle Praxis und eine revolutionierende und provokante spirituelle Bewusstseinssicht im protestantischen Norden schwierig sind – auch im Vergleich mit anderen Gegenden in der westlichen Kultursphäre.“ (9)

Diese Analyse verweist auf die vielleicht beschwerliche Seite der Grundbedingung. In unserer säkularisierten, mild protestantischen und in hohem Maße humanisierten Gesellschaft haben wir vielleicht vielen anderen Gesellschaften gegenüber den Vorteil der Offenheit, der dogmatischen Ungebundenheit. Die Relativierung des blinden Glaubens durch die Wissenschaft hat eine humanistische Breite ermöglicht, in der Nächstenliebe nicht nur etwas ist, von dem man in der Kirche hört oder das man in einer Vision erschaut. Sie wurde durch Gesetze und Verordnungen, durch Menschenrechte und soziale Sicherheitsnetze verallgemeinert.

Werte dieser Art sind in den modernen Wohlstandsgesellschaften inzwischen so weit verbreitet, dass ein Sprung in Haltungen und Handlungen erfolgen kann, die sich weit über den Einzelnen mit seinen geschwollenen Zeh und seinen persönlichen Vorlieben hinaus erstrecken. Was unter anderem die Agenda für eine Lebensperspektive und Daseinsentscheidungen setzt, das sind die kollektiven Prozesse der Veränderung und die Bedürfnisse anderer Menschen; es ist der Planet als Ganzes: nicht in der Form von Idealismus oder kompensativen Glaubensvorstellungen, sondern als Einsicht, die tatsächlichen Kraftressourcen entspringt.

Amerikanische Untersuchungen der globalen Entwicklung von Werten verweisen auf Skandinavien als eine Region, in der diese neuen Haltungen und Werte heranwachsen können. (10) Dies mag ein Grund dafür sein, dass die Pädagogik des Vækstcenters allmählich auf mehr als 20 Jahre praktischer Erfahrung mit dem Versuch, diese Ideen zu verwirklichen, zurückblicken kann.

Hinweis: Der Unterricht im Vækstcenter erfolgt ausschließlich in dänischer Sprache.

 

Anmerkungen

(1) Zitiert nach der Zeitschrift Det ukendte (Das Unbekannte), 1984.

(2) Jes Bertelsen: Dzogchenpraxis als Bewusstseinsweite S. XX.

(3) Beschrieben in Jes Bertelsen: Hjertebøn og ikonmystik (Herzgebet und Ikonenmystik).

(4) Herbstprogramm 2005 des Vækstcenters.

(5) Jes Bertelsen: Selvets virkelighed (Die Wirklichkeit des Selbst), S. 20.

(6) Jes Bertelsen: Traumarbeit und Meditation.

(7) Jes Bertelsen: Dzogchenpraxis als Bewusstseinsweite S. XX.

(8) Etwa George Leonard & Michael Murphy: The Life We Are Given s. 207.

(9) Jes Bertelsen: Dzogchenpraxis als Bewusstseinsweite S. XX.

(10) Don Beck in einem Interview „Transforming the Nordic Region (Die Verwandlung der nordischen Region)“, www.spiraldynamics.se

 

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Dieser Artikel wurde 2006 geschrieben von Jens Erik Risom und aus dem Dänischen übersetzt von Karl Antz.