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Dzogchen ist sowohl die endgültige, als auch die höchste Lehre und das Herz der Lehren aller Buddhas. Obwohl man es allgemein der von Padmasambhava gegründeten Nyingma- oder Alten Schule des tibetischen Buddhismus zuordnet, wurde Dzogchen durch die Jahrhunderte von Meistern aller verschiedenen Schulen als innerste Praxis ausgeübt. Seine Ursprünge reichen bis zu einer Zeit vor der Menschheitsgeschichte zurück, und es beschränkt sich weder auf den Buddhismus noch auf Tibet, ja nicht einmal auf diese unsere Welt.
So wird im Tantra mit dem Titel ›Alles transzendierender Ton‹ (sGra thal ‘gyur) berichtet, daß die Lehren des Dzogchen in dreizehn Dimensionen - genannt Thal-wa bzw. "außerhalb unseres Sonnensystems" - weit verbreitet sind.


Dzogchen ist eine Abkürzung des tibetischen Wortes Dzogpachenpo. Dzogpa heißt "vollständig" oder 'das Ende"; chenpo heißt 'groß'. Man übersetzt es weithin als 'Große Vollendung', dies ließe jedoch darauf schließen, daß wir uns um Vollendung bemühen oder eine Reise mit dem Ziel der großen Vollendung antreten müßten, und das ist nicht die Bedeutung von Dzogchen. Dzogchen wird gegliedert in Grund, Pfad und Frucht bzw. Erfüllung. Aus der Sicht der Grundlage von Dzogpachenpo bedeutet es den bereits selbstvollendeten Zustand unserer ursprünglichen Natur, den man nicht vollenden muß, da er von Anfang an immer vollendet war, so wie der Himmel - er ist unerschaffen und doch spontan vollkommen.
 

Traditionell führt man Dzogchen auf zwei Begriffe aus dem Sanskrit zurück. Der erste ist Mahasandhi, was 'die Sammlung von allem' oder 'Quintessenz' heißt und bedeutet, daß Dzogchen die eigentliche Essenz ist, der Rahm oder das Herzblut aller Belehrungen. Daher sind viele dieser Belehrungen als Nyingtik oder 'Herzessenz' bekannt, so zum Beispiel das Longchen Nyingtik.
 

Der zweite Begriff ist Atiyoga, was 'ursprüngliches Yoga' bedeutet. Ati weist auf das Allerhöchste hin, den Gipfel oder Zenit. Es deutet eine Bergbesteigung an, bei der man den Gipfel erreicht und die Sicht überallhin genießen kann. Denn Atiyoga oder Dzogchen steht an der Spitze der neun Yanas oder Fahrzeuge, in die die Nyingmapa-Tradition den buddhistischen Weg einteilt, wobei die drei inneren Tantras speziell der Nyingma-Tradition angehören: Mahayoga, Anuyoga und Atiyoga. Der Zenit aller Yanas, Atiyoga, repräsentiert den Höhepunkt der spirituellen Entwicklung des Einzelnen, den Punkt, an dem alle spirituellen Disziplinen und Pfade durchschritten sind.

 

Die Einzigartigkeit von Dzogchen liegt in der Methode, eine präzise Erfahrung des erwachten Zustands zu ermöglichen - die direkte Erfahrung des Absoluten. Man unterscheidet im Dzogchen zwischen dem gewöhnlichen Geist, auf tibetisch sem, und dem ursprünglichen oder reinen, unverdorbenen Gewahrsein von Rigpa. Dzogchen Pema Rigdzin, der erste Dzogchen Rinpoche, erklärte:

 

   Alles, was erscheint und existiert - die Phänomene von Samsara und Nirvana -

   ist im Zustand des leeren Rigpa vollendet enthalten. Deshalb heißt es 'Dzogpa'.
   Es gibt keine erhabenere Methode als diese, um Befreiung von Samsara zu
   erlangen, deshalb nennt man es 'Chenpo". So heißt es also Dzogpachenpo.

Das eigentliche Prinzip des Dzogchen ist, über den konzeptuellen Geist hinaus-zugehen, den gewöhnlichen, denkenden Geist insgesamt zu überschreiten und die Natur von Rigpa zu erreichen. Wie Shantideva im Bodhicaryavatara ausführt: "Das Absolute liegt jenseits des denkenden Geistes; alles, was sich im Bereich des Verstandes befindet, nennt man 'relativ'."

 

Dzogchen und die anderen Yanas

 

Aus der Perspektive der Dzogchen-Lehren können die Wege des Systems der Neun Yanas unter drei Aspekten zusammengefaßt werden: Entsagung, Reinigung und Umwandlung.

 

Die Pfade des Sutra sind allgemein als Pfade der Entsagung bekannt und wirken hauptsächlich auf der körperlichen oder Nirmanakaya-Ebene.

 

Tantra arbeitet hauptsächlich mit der Energie oder Sprache, der Sambhogakaya-Ebene. Man unterscheidet die Pfade der Reinigung - die zwei Äußeren Tantras von Kriya und Upa - und der Verwandlung, welche mit dem Yogatantra beginnt und im Inneren Tantra Mahayoga und Anuyoga einschließt.

 

Dzogchen selbst ist der Pfad der Selbstbefreiung und wirkt auf der Ebene des Geistes oder des Dharmakaya.

 

Der Pfad der Entsagung stützt sich auf Beweisführung, um die Bedeutung der höchsten Wahrheit einzuführen, sowie auf Shamata- und Vipashyana-Übungen, um schrittweise Einsicht zu entwickeln. Entsagung bedeutet, dass bestimmte Geisteszustände angenommen und andere abgelehnt werden, wobei positive Zustände entwickelt und negative Zustände mit Gegenmitteln behandelt werden. Auf dem Pfad der Reinigung wird das Negative an sich nicht abgelehnt, sondern stattdessen gereinigt, so dass sich seine ursprünglich reine Natur enthüllt. Reinigung ist die Vorbereitung, um den Segen des Weisheitswesens empfangen zu können und dabei die Reinheit in sich selbst aufzunehmen.

Auf dem Pfad der Verwandlung nimmt man die Energie negativer Zustände zu Hilfe, um diese in ihre erleuchteten Aspekte zu verwandeln. Hier wird Negativität weder abgelehnt noch gereinigt, denn ihr Wesen ist bereits rein. Diese Erkenntnis entsteht, wenn man sich selbst und seine Umgebung in die Erscheinung einer Gottheit und eines Mandalas verwandelt.

Selbstbefreiung heißt, dass alles, was sich im Erfahrungsbereich manifestiert, einfach sein darf, wie es ist, und man im unveränderlichen Zustand von Rigpa verweilt. Ohne Festhalten, ohne Anhaftung, ohne Anstrengung befreit sich alles, was auftritt, spontan von selbst. Relative Erscheinungen werden einfach im Entstehen in sich selbst befreit, so dass keine Entsagung nötig ist. Da der ursprüngliche Zustand nicht von relativen Erscheinungen getrübt werden kann, muß nichts gereinigt werden. Da Erscheinungen bereits rein sind, ist es nicht nötig, das Relative durch Visualisation in reine Wahrnehmung umzuwandeln. So umfaßt und überschreitet Dzogchen die Pfade der Entsagung, Reinigung und Verwandlung.

 

Jikme Lingpa sagt über den Weg des Dzogpachenpo:
 

   Dies ist der Pfad, den die Buddhas der Vergangenheit nahmen, die Praxis
   aller zukünftigen Buddhas und genau der Pfad, den alle gegenwärtigen Buddhas
   beschreiten. Er ist der Gipfel von allem, unberührt von den Sichtweisen der
   acht reinen Fahrzeuge, die sich auf den Geist als Weg verlassen.

 

   Denn im Dzogpachenpo, welches den Geist überschreitet,
   ist Rigpa das eigentliche Fahrzeug.

 

Um die Unterschiede der Methoden darzulegen, die in verschiedenen Yanas gelehrt werden, benutzte Dudjom Rinpoche gewöhnlich die Geschichte der giftigen Pflanze. Die Pflanze ist ein Symbol für Gefühlstrübungen oder Negativität.

 

Eine Gruppe von Leuten entdeckt, daß eine giftige Pflanze in ihrem Garten wächst. Sie geraten in Panik, als sie die Gefahr erkennen, und wollen die Pflanze abschneiden. Dies ist der Ansatz der Entsagung, wie er im Hinayana als Methode gelehrt wird, um das Ego und die negativen Gefühle zu vernichten.

Es kommt eine andere Gruppe von Leuten, die ebenfalls die Gefahr erkennen. Doch sie wollen die Pflanze nicht nur abschneiden, sondern die verbleibenden Wurzeln mit heißer Asche oder kochendem Wasser bedecken, um jedes weitere Wachstum zu verhindern. Dies ist der Ansatz des Mahayana, worin die Erkenntnis von Leerheit als Mittel gegen Ignoranz verwendet wird, welche die Wurzel von Ego und Negativität ist.

Als nächstes erscheint eine Gruppe von Doktoren. Als sie diese Pflanze sehen, erschrecken sie nicht, sondern freuen sich sogar sehr, da sie genau dieses Gift gesucht hatten. Sie wissen, wie man Gift in Medizin verwandelt, anstatt es zu vernichten. Dies ist der tantrische Ansatz des Vajrayana, in dem negative Gefühle nicht abgelehnt werden, sondern ihre Energie mittels der Verwandlung als Fahrzeug zur Erkenntnis genutzt wird.

Schließlich fliegt ein Pfau heran. Er tanzt vor Freude, als er das Gift sieht, verspeist die giftige Pflanze auf der Stelle und verwandelt sie in Schönheit. Nach tibetischem Glauben verdankt der Pfau seine Schönheit der Tatsache, dass er eine bestimmte Sorte giftiger Pflanzen ißt. Tatsächlich liegt es in der Natur des Pfaues, dass er wirklich Gift zu sich nehmen kann und dabei gut gedeiht. Daher muß er Gift nicht verwandeln, sondern ißt es direkt. Der Pfau repräsentiert Dzogchen, den Pfad der Selbstbefreiung, die Erfüllung und Essenz aller neun Yanas.

 

 
  Quelle: Sogyal Rinpoche "Dzogchen und Padmasambhava"